21 Versuche über das Ich
Die 23. Folge meiner Kolumne "David gegen Goliath" beginnt mit einer Ankündigung – und endet mit einem Text über die Bedeutung des Ichs in meinen Texten.
Liebe Lesende: Ich freue mich sehr auf diesen Moment, denn hier kommt die erste Ausgabe von David gegen Goliath nach der einmonatigen Sommerpause im August. Gleichzeitig ist es die erste Folge, die nicht im Schweizer Onlinemagazin “Das Lamm” zweitveröffentlicht wird. Falls ihr euch in den letzten 1,5 Jahren also gefragt habt, woher die Schwemme schweizerischer Beispiele in meinen Texten kam, habt ihr die Antwort.
“Das Lamm” hat etwas sehr Sinnvolles gemacht, und zwar haben die Leute dort sämtliche Kolumnen über Bord geworfen, um Platz zu schaffen für Neue. Das halte ich für richtig, denn Kolumne schreiben ist kein Selbstzweck und es ist notwendig, verschiedenen Stimmen Gehör zu verschaffen. Dass meine Kolumne nicht mehr an ein Medium gebunden ist, hat zwei Seiten: Die eine ist eine Finanzielle: Ich muss nun auf ein Honorar von 150 Euro verzichten. Falls euch meine Texte also gefallen wäre es toll, wenn ihr die Arbeit mit einer Spende unterstützt. Oder ihr werdet einfach gleich Mitglied bei Steady.
Die andere Seite ist dafür eine Positive: Ich bin jetzt etwas freier, was die Textformen und Inhalte angeht und bin nicht ganz so sklavisch an Themen wie Klasse, soziale Ungleichheit und Armut gebunden. All das wird es hier natürlich weiter geben. Aber ich nehme mir die Freiheit, zu schauen, worauf ich Lust habe.
Vielleicht erscheint bald mal eine Folge, in der ich bloß – ganz im Sinne eines Newsletters – ein paar Updates von mir, meinen Veröffentlichungen und Terminen gebe. Oder ich schreibe eine Reportage. Was es ganz sicher geben wird und das beginnt schon mit dieser Ausgabe: in loser Abfolge werden hier Texte zu Literatur und zur Verantwortung des Schreibens veröffentlicht. Da taucht das Motiv “David gegen Goliath” in anderer Form wieder auf.
Jetzt aber erst einmal viel Spaß bei einem Text, von dem die aufmerksamen Leser*innen meines Essaybandes “Von der namenlosen Menge” einige Schnipsel wiedererkennen könnten. Ich habe mich vor einiger Zeit an einer Reihe Miniaturen zur Frage nach dem Ich im Text versucht.
21 Versuche über das Ich
1 Das Ich muss eng genug anliegen, sodass es nicht
entgleitet, es muss, sagen wir, Kleidergröße 34 tragen,
darüber darf es nicht hinaus. Es darf kein Herunterhängen
geben, keinen langsamen, durch die Trägheit der Zeit
verschuldeten Ich-Verlust. Aber der Raum des Ichs, der muss
sich darüber hinaus erstrecken, mindestens eine 44, besser
eine 48, muss er sein, damit alle zukünftigen und vergangenen
Ichs sich in ihm wohlfühlen. Umstandslos.
2 Die Gaspistole, sage Ich, die muss zu sehen sein, wenn das
Ich irgendwo geschrieben steht. Die muss man hören, sagt eine
Stimme in mir. Jederzeit PAK! muss mit ihrem PAK! gerechnet
werden! Der Leser, jubelt eine Stimme in mir, pak! Sage Ich
versuchsweise, der Leser, wiederholt eine Stimme in mir, ist
der Kioskbesitzer, der das Gas deiner Familie frisst, PAK!
PAK! PAK! wird es ihm Kugel für Kugel ins Gesicht gespuckt.
3 Wie soll das gehen, fragt eine Stimme in mir. Wer spricht da,
antworte Ich, Ich wähnte mich alleine zu Hause. Zu Hause,
wo soll das sein, entgegnet die Stimme.
4 Aber das Ich, warnt eine Stimme in mir, es darf nicht an
deinen Segelohren enden, nicht an deiner hohen Stirn oder
deinem Stolz. Es muss sich auf deinen gewalttätigen Großvater
erstrecken, es muss, wie er, einen roten Winkel aus dem KZ
auf sich tragen, es muss Teil deiner Familie sein, ob du
willst oder nicht, und wenn nicht den Winkel selbst, dann die
Erinnerung an ihn. Wenigstens die.
5 Das Ich wandert in mir herum, auf der Suche nach
Komplizenschaft und da ist in diesen guten Zeiten so viel von
ihr, doch wie viel in Schlechten?
6 In Gorleben, da muss dem Ich von einer Bullenknute, die
Schulter muss ihm gebrochen worden sein, wie deiner Familie,
sagt eine Stimme in mir. Sie lechzt jetzt nach Blut, die
Stimme.
Polizistenknüppel frage ich vorsichtig?
Nene, sagt
die Stimme
in
mir leise
aber mit hoher Stimme,
und jetzt, wispert sie,
so leise,
Dass man es
kaum mehr hören
kann mit seinen eigenen
Lauscherchen,
(Ich beuge mich vor, um
alles mitzubekommen)
Und dann PAK!!!!!!!, brüllt die Stimme,
das Ich wird
jetzt auf dem Motorrad festgebunden,
so wie deine Familie
damals in Gorleben, mit einem Strick an den Fahrer
festgebunden wird es,
oder die Fahrerin,
sage Ich,
Weg, bloß weg von den
Schweinen
in Uniform
und das Bein, es
muss Bluten muss
es, ruft eine Stimme in
mir.
(Jetzt plötzlich nüchtern)
Erst später,
später wird man feststellen,
dass es
Ebenfalls gebrochen
ist.
So wie die Beine deiner Familie
gebrochen worden sind.
In Gorleben, sage Ich.
In Gorleben,
sagt eine Stimme in mir.
PAAAAAAAAAAKKKKKKKK! Schreit die Stimme. Das Ich, ruft sie
plötzlich wieder,
wie von
Sinnen,
es muss Selbstmordgedanken gedacht,
es muss Gewalt
erfahren haben
noch und nöcher,
es muss
(jetzt plötzlich klar)
sich dem Beherrscht werden entziehen.
Wie soll es das,
frage Ich.
In dem grmghmhpf
knurrt eine Stimme in mir
plötzlich.
Hm, frage Ich.
7 Das Ich ist im Kopf des Lesers und gleichzeitig in der Welt.
Es ist Gefühl und Tatsache. Es ist die Summe aller Annahmen,
die Wurzel aller Verwerfungen, die… Klappe, sagt die Stimme
in mir.
8 Die Buchstaben IG als Endung werden im hochdeutschen Ich
ausgesprochen, sage Ich. Haar-Ich, garst-Ich, räud-Ich, sagt
eine Stimme in mir. Sonn-Ich, frage Ich. Scheinheil-Ich,
entgegnet die Stimme.
9 Mit welchem Recht noch Ich sagen, wo das Ich ausgehöhlt und
entkernt, entpolitisiert und zivilisiert, gestriegelt
und im Schonwaschgang weichgespült wurde.
10 Das Ich als Axt für das gefrorene Meer in uns. Das Eis sagt
eine Stimme in mir, das wird doch vom Klimawandel schon
aufgetaut, braucht es da das Ich für? Das Ich als Brücke,
damit die vielen nicht ertrinken werden, wenn der Pegel
steigt, schlage Ich vor. Ich denke weiter nach. Das Ich als
Einfallstor, für die unerhörten Geschichten der Vielen, sage
Ich schließlich. Das Ich als Floß im Meer der Vereinzelung,
sagt eine Stimme, plötzlich kompromissbereit in mir.
11 Muss sich das Ich auch mit der Gewalt an Frauen beschäftigen,
fragt eine Stimme in mir, in dem Sinne, als dass es das Leid
zeigen muss, zeigen muss, wie die Frauen aus der eigenen
Familie unter der Gewalt durch Männer gelitten haben? Darf es
das? Darf das Ich eine Anmaßung sein, oder muss es das
vielleicht sogar? Ich denke, antworte Ich, das Ich muss einen
Körper haben, der ermöglicht, dass ihn ihm auch das Ich einer
Frau angelegt ist, aber sage ich, jetzt wird es kompliziert,
ohne, dass es das Leid der Frauen deiner Familie vereinnahmt.
Anmaßend in seiner Brüderlichkeit, jedoch nicht verschleiernd
in der Differenz. Wie soll das denn Bitteschön gehen, fragt
eine skeptisch gewordene Stimme in mir. Wir werden eine Form
finden müssen, Antworte Ich. Irgendwie.
12 Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich bin Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich nicht Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich allein Ich Ich Ich Ich.
13 Das Ich als Ausdruck der Sprachlosigkeit eines Wir, das sich
erst konstituieren muss. Niemals, sagt eine Stimme in mir,
ist im Ich ein Wir angelegt. Aber, sage Ich, wir – du und Ich,
bei uns doch schon, wir streiten doch im inneren
miteinander, wir finden zu einer Lösung, sprechen nicht immer
aus einem Mund, aber doch mit einer Stimme. Und wir, sage Ich,
wir wollen doch von der Kunst leben, sage Ich, weil Ich
nicht weiter weiß. Wie soll ich denn einem literarischen
Verlag ein Wir statt eines Ichs verkaufen und behaupten, es
handele sich bei ihm nicht um politisch verordnete
Gleichmacherei.
14 Und doch, wispert eine Stimme zögerlich nach einer längeren
Pause, Ich wäre dabei, wenn das Ich sich radikalisierte.
Dafür muss es durch einen mikroskopischen Schnitt, aus dem
Körper seines neoliberalen Wirts herausgetrennt werden,
bestätige ich die Stimme. Plötzlich ist die Stimme in mir von
der, der Euphorie auf dem Fuß folgenden Ernüchterung ermattet.
Lassen wir es, sagt es nach einer Weile mit brüchiger Stimme.
Wir, frage Ich?
15 In Ein Zimmer für sich allein schreibt Virginia Woolf, dass
„‚Ich‘ ist nur ein bequemer Ausdruck, für jemanden, den es
nicht gibt“. Das Ich, sagt eine Stimme in mir, ist der
Versuch einer Rekonstruktion von etwas, für das es in dieser
Welt keinen Platz gab. Dem Ich der Armut. Dieser Platz sagt
eine Stimme in mir, den werden Sie uns nicht kampflos
hergeben.
16 Schreiben mit derselben Notwendigkeit, mit der dein Vater die
Gaspistole in den Kiosk getragen hat, auf der Jagd nach Geld.
Dafür braucht es nicht unbedingt ein Ich, wende ich ein. Aber
das Ich, sagt eine Stimme in mir, es würde dazu einladen, die
Kioskkasse mit ausgeraubt zu haben. Und darauf kommt es doch
an, säuselt diese eine Stimme in mir weiter, die Stimme, sie
weiß nun, dass sie mich am an einer empfindlichen Stelle
getroffen hat. Es darf zwischen dem kämpfenden Subjekt und dem
Leser keine Ausrede geben, fährt sie, gestärkt durch mein
Schweigen fort. Geht das Ich in den Kiosk, gehe ich als Leser
mit, ich habe keine Wahl, so wie das Gaspistolen-Ich keine
Wahl hat. Also gibt es auch keine Fiktion, stelle Ich fest.
Keine Behauptung von Fiktion ergänzt eine Stimme in mir. Ja,
Genau, nickt die Stimme, kein wohliges Buchdeckelzuklappen,
kein Verstecken hinter einem bestimmten fiktionalisierten
Verfahren. Keine Literatur Literatur. Alles muss mit der
Konsequenz geschrieben werden, als wäre es selbst durchlitten.
17 Der Schriftsteller als Membran, durch den die soziale Wahrheit
Hindurch sickert, das Ich als Lösungsmittel, dass sie
verflüssigt.
18 Das Ich müsste sich über den Bereich des Tatsächlichen
auch immer auf den Bereich des Möglichen ausdehnen, sagt eine
Stimme in mir. Dort, wo die Realitäten klein sind,
Skizzenhaft, durch die Notgedrungen, da werden
die Denkräume groß.
19 Das ich als revolutionäres Subjekt, denn Ich zu sagen, das war
nicht vorgesehen, in den Lebensläufen derer, denen du einen
Platz an der Sonne erschreiben willst. Und wenn nicht an der
Sonne, dann doch wenigstens im Trockenen.
20 Das ich als eine Einladung für die Lesenden nicht selbst auch
ich sagen zu müssen, sondern du. Das Ich zu benutzen, um von
seiner Entfremdung – und nichts als seiner Entfremdung zu den
schwieligen Arbeiterhänden seiner Eltern und
Großelterngeneration zu erzählen – wozu? Das Ich im Aufstieg
zu erzählen: mit welchem Recht? Das Ich höchstens als
Forschungsgegenstand: wie viele Gegenerzählungen passen
zwischen die zögerlich tippelnden Schritte eines Ichs?
Wie kann das Ich den Lese- und Hörgewohnheiten widerstehen und
sich nicht mit dem gefälligen Ich der Literatur Literatur
gemein machen, in dessen glatte Haut alle Kritik
hineindiffundiert.
21 Ich + ich = Wir, sage Ich, das ist der kleinste Nenner der
Gemeinschaftlichkeit. Du, sagt eine Stimme in mir, und tippt
mir auf die Brust. Ja, sage Ich? Ich und Du = wir, sagt die
Stimme in mir. Ja, sage Ich. Wir.