Es hat keinen Mord gegeben, solange er nicht in der Sprache stattgefunden hat
„Wir werden uns wieder mit den ganz uninteressanten Fragen auseinanderzusetzen haben, etwa: Wie kommt die Scheiße in die Köpfe?“ Wer aktuell aufmerksam Medien konsumiert, kommt an der vor 35 Jahren ausgesprochenen Wahrheit des kommunistischen Schriftstellers Ronald M. Schernikau nicht vorbei.
Unabhängig von dem kleinen Linksruck, der nur eine unmittelbare Reaktion auf eine so gewaltige, wie schleichend eingesetzte Diskursverschiebung nach rechts ist, die wir seit zwanzig Jahren erleben, sind wir genau bei dieser Frage, so frustrierend sie auch sein mag: “Wie kommt die Scheiße in die Köpfe?“ Ein besonders anschauliches Beispiel dafür liefert ein offener Brief von einer Gruppe Schriftsteller*innen und Verleger*innen, der kürzlich in der Süddeutschen Zeitung erschien.
Unter dem Titel „Menschen sind keine Naturkatastrophe“ kritisierte die Gruppe Ende Februar eine Gesetzesinitiative der CDU-Bundestagsfraktion mit dem Titel „Zustrombegrenzungsgesetz“.
Für den Fall, dass hier jemand die vergangenen Wochen in einer Höhle gelebt hat, hier ein kurzer Abriss: Die CDU hatte mit diesem Gesetzesentwurf kurz vor der Bundestagswahl versucht, der AfD Stimmen abzuluchsen, in dem sie vorschlug, die Zuwanderung nach Deutschland quasi abzuschaffen. Amnesty International bezeichnete das Vorhaben zurecht als eine Verletzung des Europa- und Völkerrechts. Eine knappe Mehrheit im Bundestag stimmte dagegen, das Gesetz kam nicht zustande.
Nachdem die Gesetzesvorlage gescheitert war, dauerte es nur noch einen knappen Monat, bis eine Gruppe Menschen aus dem Literaturbetrieb reagierte. Schon bei der Geschwindigkeit lässt sich erahnen, dass auf die derzeitige Beletage der Literatur im Ernstfall kein Verlass wäre. Aber nun zum Inhalt. Die Gruppe um Uwe Timm und Hanser-Verleger Jo Lendle bezeichnete die Wortwahl „Strom“ als „rhetorisches Repertoire des europäischen und deutschen Faschismus des 20. Jahrhunderts“, um dann festzuhalten, dass „der realen Barbarei die Barbarisierung der Sprache vorausgeht“. Und noch ein letztes Zitat: „Die Sprache selbst stellt den ersten Tabubruch dar.“
Der Fetisch des deutschen Literaturbetriebs mit der Sprache ist zu jederzeit eine seltsame Erscheinung, aber angesichts der politischen Lage, in der wir uns befinden, kippt es ins Groteske. Nie sind Wahlprogramme so weit nach rechts gerückt, wie bei dieser Bundestagswahl. Rechtsextreme Straftaten haben 2024 einen Höchststand erreicht, die Aufrüstung der Bundeswehr wird in der bürgerlichen Presse als alternativlos verhandelt. Die Armutsquote steigt seit zwanzig Jahren praktisch unaufhörlich.
Man könnte meinen, das alles wäre Tabubruch genug. Aber nein, die Sprache, die Sprache! Von Schreibenden hierzulande wissen wir, „welche Wunden Sprache hinterlassen kann, bisweilen schlimmere als Ohrfeigen und Fausthiebe“.
Man könnte meine als Text verkleidete Intervention als eine pedantische Kurskorrektur abtun, jedoch haben wir es hier mit einem kategorialen Grundproblem der Postmoderne zu tun, nämlich der Verwechslung von Ursache und Wirkung.
Für den Literaturbetrieb gilt: Es hat keinen Mord gegeben, solange er nicht in der Sprache stattgefunden hat. So wenig Interesse besteht im Betrieb an den realen Begebenheiten, von denen die Sprache ein Abbild ist – und nicht umgekehrt.
Oder, um es mit Marx zu sagen: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ Es ist nicht falsch eine Intervention in Sachen Sprache zu unternehmen, denn dass Sprache Gewalt transportieren kann, damit haben sämtliche in diesem Text zitierte recht. Es ist jedoch falsch, die Geschehnisse ihrer historischen und realen Reihenfolge zu entreißen.
Friedrich Merz glaubt DANN, dass er mit einem „Zustrombegrenzungsgesetz“ Erfolg hat, wenn zwischen den Positionen von Pegida 2014 und der Politik von Grünen und Liberalen kaum mehr ein Unterschied auszumachen ist. Die neoliberale Wirtschaftspolitik, die für massenhafte Verelendung gesorgt hat, provoziert keine offenen Briefe besorgter bürgerlicher Literat*innen, nur ihr Ergebnis – eine Verrohung der Gesellschaft, eine Polarisierung der Klassen, das Wiedererstarken des Nationalismus als als falsche Antwort auf Sozialabbau – vermag es, für Empörung zu sorgen.
Die genannten Phänomene erscheinen in dieser Sicht nicht ein Problem für sich zu sein. Zumindest kein so großes, als dass man von den Unterschreibenden jemals eine starke Gefühlsregung in diesen Angelegenheiten vernommen hätte. So wie sich die Phänomene veräußern, wird es erst zum Problem.
Friedrich Merz ist nicht das Problem, auch das „Zustrombegrenzungsgesetz“ ist nicht das Problem. Die Wortwahl zu problematisieren, ohne den Rahmen zu kritisieren, trägt zu einer infantilisierung des Diskurses bei. Sowohl Friedrich Merz als auch sein Gesetzesentwurf sind das Resultat eines Problems – von dem die Initiator*innen des Briefes aber nicht sprechen.
Friedrich Merz würde sich auch Gandalf der Graue nennen, oder als Hippie verkleiden, wenn man ihn anschließend die Geschicke der Bundesrepublik übertragen würde. Wir leben aber in einer so weit fortgeschrittenen Phase des Kapitalismus, in der Antworten auf Probleme wie die Klimakrise und begrenzte Ressourcen nicht im Sinne aller, sondern in einer „Wir-Gegen-Die-Politik“ gesucht werden. Und in der klingt Merz wie ein Faschist, damit er links von der AfD überhaupt wahrgenommen wird.
Die Schreiber*innen des offenen Briefes aber kritisieren nicht das Spiel, sie sind ein Teil von ihm. Stattdessen kritisieren sie, wie Akteur*innen sich in dem Spiel verhalten. Die Kategorie ist eine moralische. Und Moral will nichts verändern, sie will belehren. Auch hier hilft wieder Ronald M. Schernikau aus, der er in derselben Rede wie in dem Zitat vom Anfang vor 35 Jahren auf dem Schriftstellerkongress der DDR sagte:
„Der Westen hat, und das ist ein so alter Trick, die Moral eingeführt, um über Politik nicht reden zu müssen. Moral, weil sie unter allen möglichen Standpunkten ausgerechnet den herzzerreißenden wählt, macht sich selber handlungsunfähig; deshalb ist sie so beliebt. Einen Vorgang moralisieren heißt, ihm seinen Inhalt nehmen.“