Heimkehr nach Hamburg
Nach fünf Jahren Odyssee durch Norddeutschland kehre ich in meine Heimatstadt zurück – mit derselben Erschöpfung, mit der ich aufgebrochen bin.
Vielleicht habt ihr es bemerkt: Die 31. Ausgabe meiner als Newsletter erscheinenden Kolumne David gegen Goliath ist eine Woche zu spät dran. Ich bin Ende Mai nach genau fünf Jahren wieder zurück nach Hamburg gezogen und Umzug und Renovierung haben mir fast alle Kraft geraubt. Dazu muss Geld verdient werden. Das heißt für mich: Manuskriptseiten überarbeiten, Podcastfolgen aufnehmen, Kolumnen schreiben, in überfüllten Zügen sitzen, um Workshops und Lesungen zu geben. Dann der Bürokram als freier Autor.
Ich möchte niemanden mit dieser Aufzählung langweilen. Ich erzähle sie, weil sich eine interessante Parallele ergibt, denn als ich vor fünf Jahren aus Hamburg weggezogen bin, war mein Zustand ähnlich desolat. Schon das halbe Jahr vor dem Umzug zeigten sich klassische Erschöpfungssymptome bei mir. In meinem Volontariat bei der Hamburger Morgenpost war ich immer häufiger und in immer kürzeren Abständen wegen Depressionen krankgeschrieben. Zwei Monate vor dem Umzug 2020 wurde bei mir Hodenkrebs diagnostiziert, ich wurde operiert und als wäre das nicht genug, lag ich vier Wochen vor dem Umzug mit einer Herzmuskelentzündung im Krankenhaus.
Dann, mit Anfang dreißig, das erste Mal länger als sechs Wochen außerhalb von Hamburg. Während Corona. Ich habe am Ende des ersten Jahres einen Text für das nd geschrieben, in dem ich den Kulturschock schildere, während des ersten Corona-Jahres aus der Großstadt ins Emsland zu ziehen.
Ich schrieb: „Großzügig sah ich über die kleinen Makel meiner Heimat auf Zeit hinweg. Zum Beispiel das Atomkraftwerk, das keine zwei Kilometer Luftlinie entfernt seinen Wasserdampf in den Himmel spie. Oder den Altersdurchschnitt meiner Nachbar*innen, der sich bei irgendwas um die 60 plus bewegte. Und die Kampfjets des nahe gelegenen Fliegerhorsts, die regelmäßig über meinen Kopf hinweg fauchten. Darüber, dass die Stadt gewisse Ähnlichkeiten mit der trostlos-fiktiven Stadt Winden aus der deutschen Serie »Dark« hatte.“
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Im Emsland habe ich ungefähr 2/3 des Manuskriptes von „Keine Aufstiegsgeschichte“ geschrieben. Jeden Abend dachte ich, heute Nacht sterbe ich – ein Symptom meiner Anpassungsstörung, in Folge der Herzmuskelentzündung. Mein Herz in den ersten Monaten: Wahlweise ein Klumpen, in den man eine Reißzwecke gesteckt hatte, oder ein galoppierendes Pferd, das mehr und unkontrollierter schlug als ich es brauchte.
Die darauffolgenden Jahre im Zeitraffer: Umzug nach Osnabrück. Osnabrück eine Stadt von der Größe, dass ich die beiden Menschen, die ich in Osnabrück kannte, in der ersten Woche durch Zufall auf der Straße traf. Nach zwei Wochen die Zulassungsbescheinigung für Hildesheim, wo ich ein paar Semester literarisches Schreiben studiert habe. Hätte ich vorher gewusst, dass ich von Bertolt Brechts „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ mehr mitnehmen konnte, als in den fünf Semestern, ich wäre nicht hingegangen. Na ja. Umzug nach Hannover. Abbruch des Studiums. Die Veröffentlichung meines Essaybandes „Von der namenlosen Menge“. Von „Werde ich einen Verlag für mein Debüt finden“ zu 60 Veranstaltungen pro Jahr.
Und doch, die Probleme sind die Alten, nur in neuem Gewand. Das Selbstbild und die Gedanken ebenfalls dieselben: Wenn ich nicht 120 Prozent gebe, bin ich gescheitert. Aufruhr und Erschöpfung, die sich abwechseln, zwei Seiten derselben Medaille.
Ich komme nach fünf Jahren Odyssee durch Norddeutschland wieder nach Hamburg und natürlich stehe ich an einem anderen Punkt in meinem Leben als zu meiner Abreise, aber die Erschöpfung ist dieselbe. Man muss weder Hodenkrebs noch eine Herzmuskelentzündung diagnostiziert bekommen, um erschöpft zu sein.
Wie macht man das, auf die Bremse treten? Die Urteile, die über einen gesprochen worden sind – dass man zu dem Teil der Bevölkerung gehört, der kein Anrecht auf einen ruhigen Atem und auf einen entspannten Puls hat – nicht zu bestätigen, sondern sie zu widerrufen? Ich weiß es nicht, aber ich muss es lernen.
Darum soll es nun etwas gehen. Neben dem Geld verdienen, neben der notwendigen und sinnstiftenden Tätigkeit des Schreibens zu erforschen, wie ich funktioniere, wenn ich bloß halbe Kraft gebe. Das heißt: Mein Podcast geht für zwei Monate in die Sommerpause. Die nächste Folge David gegen Goliath erscheint erst im August wieder. Ich hoffe auf euer Verständnis.
Noch ein paar Veranstaltungshinweise:
Am 24.06. spreche ich in meiner neuen Talkreihe „Kultur & Kampf“ im Salon des Haus 73 mit Asal Karimi und Laro Bogan über die (Un-)Möglichkeit, den Völkermord in Gaza im Kulturbetrieb zu benennen.
Am 12.07. lese ich auf dem Methfesselfest in Eimsbüttel aus meinem Essayband „Von der namenlosen Menge“.
Am 24.07. lese ich auf Einladung der GWA St. Pauli aus meinem Essayband „Von der namenlosen Menge“ - Uhrzeit und Ort wird noch bekannt gegeben.
Am 22.08. lese ich auf dem internationalen Sommerfestival auf Kampnagel.
Bis bald,
euer Olivier
This: „Man muss weder Hodenkrebs noch eine Herzmuskelentzündung diagnostiziert bekommen, um erschöpft zu sein.“
Und dann die Erschöpfung zulassen und akzeptieren, das ist auch eine meiner Lebensaufgaben
Danke dir für diesen Text. Willkommen zurück in der Heimat.