Nachdenken über Gewalt
Am Fall des ermordeten CEOs einer amerikanischen Krankenversicherung zeigen sich die Grenzen bürgerlicher Auseinandersetzung mit der Frage der Gewalt.
„Wer den Hungernden kein Brot gibt, der will die Gewalttat“ (Brecht)
In den vergangenen Wochen wurde viel über Gewalt gesprochen und geschrieben, sodass es sich lohnt, einmal genauer hinzuschauen. Dass der Aufhänger dabei die Tat eines Einzelnen ist, Luigi Mangione, dem vorgeworfen wird, den CEO einer Krankenversicherung erschossen zu haben – und nicht etwa die innerhalb von einem Jahr um 100 Prozent gestiegene Anzahl an Todesopfern durch Polizeigewalt in Deutschland; nicht etwa der Umstand, dass reiche Männer in Deutschland gegenüber armen Männern 12 Jahre Leben in Gesundheit mehr haben und nicht etwa, dass der Sozialverband “Der Paritätische” ermittelt hat, dass hierzulande 5,4 Millionen Menschen mehr als eigentlich angenommen von Armut betroffen sind – sagt nichts Gutes aus.
An wohl keiner Beschäftigung mit Gewalt lassen sich die Fallstricke bürgerlicher Moral so eindeutig festmachen, wie bei Carolin Emckes Buch „Stumme Gewalt“, in dem es um die Ermordung ihres Patenonkels Alfred Herrhausen durch die RAF geht. An einer Stelle fragt Emcke: „Kann das gelingen: einen gewaltsamen Tod zu betrauern und die Ursprünge der Gewalt zu reflektieren?“ An dieser Stelle, so viel erlaube ich mir, kann vorgegriffen werden: Nein, Emcke gelingt es in dem Buch nicht.
Was man festhalten kann: Den Tod des eigenen Patenonkels zu betrauern kann durchaus undifferenzierter geschehen als bei Emcke. Man merkt ihrem Nachdenken an, dass es von dem Wunsch geleitet wird, die Dinge durchdringen zu wollen. Doch dazu später mehr.
Emcke schreibt: „Aus erfahrener Gewalt entspringt die Selbstlegitimation, gewalttätig zu sein“. Das ist ein ganz ähnlicher Schluss, den Medien aus dem Mord an Brian Thompson, der CEO von United Healthcare, gezogen haben. Die Abwärtsspirale des mutmaßlichen Killers, so heißt es in der Zeit, „scheint mit einer Rückenverletzung zu tun zu haben, die er sich vor einiger Zeit zuzog und die zu chronischen Schmerzen führte“.
Wenn Emcke und der Zeit-Journalist also richtig liegen, und sie die Gewalt als Reaktion auf erlittenen Schmerz zurückführen, dann liegt der Fehler darin, dass sie die Reaktion auf Unrecht zum Erzählanlass auswählen – darin aber die Ereignisse, die sie auslösen, niemals zentral im Mittelpunkt stehen.
Bürgerlicher Journalismus thematisiert zwar immer wieder Unrecht, zumeist entfachen einzelne Enthüllungen über soziale Missstände jedoch keinen Diskurs mit einer derartigen Schlagkraft wie im Fall von Emcke, deren Buch den renommierten Theodor-Wolff-Preis gewann. Oder wie nun im Fall Mangione.
Dieser Newsletter handelt vom Schreiben mit Klassenstandpunkt, es geht um Klasse, Krise und Kultur – eben Olivier David gegen die Goliaths dieser Welt.
Wenn du meine Arbeit unterstützen möchtest, kannst du das wie folgt tun: Teile den Newsletter über Instagram oder schicke ihn Freun*innen. Besonders hilfst du mir, indem du David gegen Goliath monatlich bei Steady abonnierst, oder einmalig via PayPal spendest.
Warum ist das so? Warum lässt sich aus individualisierenden Rache-Erzählungen derart diskursive Aufmerksamkeit ableiten, während die Berichte über die gesellschaftlichen und sozialen Entstehungsbedingungen, die das Fundament der Gewalt bilden, häufig ungehört verpuffen?
Auf eine Spur führt uns Michel Foucaults Essay „Die Ordnung des Diskurses“, in dem er die Bedingungen aushandelt, wie Themen und Ereignisse zu Diskursen werden. Ein wesentliches Element, das Diskursivität begünstigt, ist bei Foucault „die Verknappung des Diskurses”, oder auch die Beschneidung. Was Teil eines Diskurses ist, definiert sich vor allem auch darüber, was der Diskurs nicht ist.
Angewendet auf die Beschäftigung mit der Gewalt durch Emcke oder die Beschäftigung der Gewalt gegen den CEO trägt der Erzählanlass der individuellen Gewaltausübung hier schon maßgeblich zu dieser Verknappung bei.
Sowohl der Zeit-Autor des Mangione-Textes, als auch Emcke verschieben den Fokus von einem systematischen Problem – wir leben in einem inhärent gewaltvollen politischen System – auf ein individuelles, das sich nicht verstehen (aber immer verurteilen) lässt ohne das diffuse große Ganze mit einzubeziehen.
Für Klassengewalt und Ausbeutung ist kein Platz
Wir müssen zurück an den Anfang meiner Überlegungen, an dem ich Emckes Wunsch, verstehen zu wollen, nicht infrage gestellt habe. Emcke glaubt, sie will verstehen, aber sie setzt dabei fundamental falsch an. Ihr Buch, das mit einer persönlichen Wunde beginnt, nämlich der Ermordung einer geliebten Person, sucht die Erklärung für die Wunde nicht in sozialen Verhältnissen. Nicht Klassengewalt von Oben nach Unten, nicht Imperialismus oder Ausbeutung stehen im Zentrum ihrer Überlegung, sondern ihr Patenonkel und ihr Leid.
Emcke interessiert sich vor allem dafür, wie sie die anonymen Täter zum Reden bringen kann. Gewalttätige Verhältnisse haben nur als Randnotiz Platz, geben aber niemals Handlungsimpulse, die ein Ende der Gewalt an sich formulieren.
An einer Stelle bemerkt Emcke, dass ihre Mission zum Scheitern verurteilt ist, wenn sie schreibt: „Man kann wahnsinnig daran werden, nach einer Logik zu suchen, wo nur Gewalt herrscht.“ Diskurse, das machen Emcke und die zahlreichen Journalisten, die über den Mangione-Fall schreiben ganz richtig, benötigen nach Foucault einen „Ereignischarakter“. Das Ereignis ist in Form der Ermordung ihres Patenonkels – oder im Falle Mangiones – eines CEO gegeben.
Auch an Foucaults Regel der „Verknappung“ hält sich Emcke. Sie denkt nicht über Gewalt an sich nach, sondern über die Gewalt der RAF und löst sie somit aus ihrem gesellschaftlich-historischen Kontext heraus, ohne die die RAF aber nicht erklärbar ist. Sie gibt vor, verstehen zu wollen, sucht den Grund für ihr Unverständnis aber im Schweigen der Täter, die sich immer wieder in Texten zu ihren Taten verhalten haben. Aber die politische Dimension von Gewalt stellt sie nicht zufrieden, sie will etwas, von dem sie ausgehen muss, dass sie es niemals bekommen wird: das psychosoziale Geständnis und schlägt Straffreiheit für die Täter vor.
Emckes Überlegungen enden bei den Tätern
Was soll aber ein Nachdenken über die RAF und ihre Taten für einen Erkenntnisgewinn darstellen, das nicht bei den Frustrationserfahrungen der 68er-Bewegung ansetzt? Ein Nachdenken über die RAF ohne die Ermordung Benno Ohnesorgs oder die Schüsse auf Rudi Dutschke ist nicht vom Wunsch nach Aufklärung geleitet. Die Schüsse auf Ohnesorg und Dutschke, sowie die 68er-Bewegung sind nicht zu verstehen, ohne Analyse von Autoritarismus und Postfaschismus der Nachkriegszeit und die genannten Phänomene wiederum sind nicht erklärbar ohne Analyse des Nationalsozialismus – und der ist nicht ohne die historischen Begebenheiten der Weimarer Republik und der Niederlage der Deutschen im ersten Weltkrieg zu begreifen. Und so weiter.
Davon will Emcke aber nicht viel wissen. Indem sie alles Nachdenken bei dem Tod ihres Patenonkels beginnen (und enden) lässt, öffnet sie für tatsächliche Aufklärung keinen Raum. Aber warum dann die Mühe?
Emcke und die Kommentatoren in der Debatte um den Mord an dem CEO von United Healthcare haben eines gemeinsam: Sie folgen einem Script bürgerlicher Kultur, indem nicht vorgesehen ist, dass in bestehende Machthierarchien eingegriffen werden soll. Indem sie Gewalt kritisieren, aber die Entstehungsbedingungen der Gewalt als Erklärung nicht gelten lassen, stärken und immunisieren sie durch ihre Intervention jene Systeme, die zu kritisieren, sie vorgeben.
Wahrheiten jenseits bürgerlicher Moralvorstellungen
Wer wirklich etwas herausfinden will, der muss dahin gehen wollen, wo die Wahrheiten liegen, und dieser Ort liegt jenseits bürgerlicher Moralvorstellungen. Es geht um die Erlaubnis, die eigenen Vorstellungen von der Wahrheit verwüsten zu lassen. Nicht zuletzt muss man sich selbst die Erlaubnis erteilen, Glaubenssätze zerbrechen zu sehen, die Teil des selbst geworden sind.
Wenn wir über ein Ende der Gewalt reden, dann wird das nur jenseits gewalttätiger Verhältnisse zu finden sein. Und die beginnen überall dort, wo ein Mensch über einem anderen steht. Da ist die Demokratie plötzlich ein System, in dem sich noch am geschicktesten Herrschaft verstecken und Repräsentation vorgaukeln lassen kann.
*
In seiner Tübinger Poetik-Dozentur denkt der Autor Édouard Louis darüber nach, welche soziale Gewalt zum Tod seines Bruders geführt hat. Sein Bruder, der mit 38 Jahren an den Folgen seines Alkoholkonsums gestorben ist, war ihm selbst nie sympathisch, im Gegenteil, er habe unter seinem Bruder gelitten, sagt er. Ausgehend davon formuliert er ein Unbehagen mit gegenwärtiger progressiver Politik.
Er sagt: „Wenn Politik auf Liebe beruht, was ist dann mit denjenigen Menschen, die von der Gesellschaft, von Klassismus, Rassismus und Patriarchat so kaputtgemacht worden sind, dass ihr Verhalten unsympathisch ist?“ In diesem Fall, so Louis, versuche Politik gar nicht mehr, „das Problem, das sie zu den Menschen gemacht hat, die sie sind, zu beheben, und dann tritt dieses Problem immer wieder auf.“
Ausgehend davon formuliert er eine literarische Programmatik, die das Ergebnis – eine Welt, in der möglichst viele möglichst gleich sind – in den Mittelpunkt der Handlungsweisen stellt: „Ich will meinen Bruder nicht verteidigen, aber seine Lebensgeschichte schon, gerade weil sie unsympathisch ist“.
Was Louis in der Literatur geltend macht, das wendet die amerikanische Intellektuelle Ruth Gilmore auf die Frage an, was für eine Politik dieses Vorhaben benötigt. In einem Interview in der Schweizer Wochenzeitung sagt sie: „Wir brauchen Institutionen, die dafür sorgen, dass auch diejenigen nicht leiden, die wir persönlich vielleicht verachten.“
In dieser Vision sind wir nicht länger darauf angewiesen, dass uns potentielle Gewalttäter sympathisch sind – wie im Falle Mangiones, oder eben nicht, wie im Falle von Louis’ Bruder – in dieser Welt haben alle Menschen ein Anrecht darauf, nicht zu leiden, unabhängig davon, wie problematisch sie sich selbst verhalten. Und das ist doch eine Vision, für die es sich zu kämpfen lohnt.