Radikalisiert euch
Worte wie Angst, Gefahr oder Gefährlichkeit sind der gesellschaftlichen Linken abhandengekommen. Doch in der Flauschigkeit gibt es nichts zu gewinnen.
Manchmal betrachte ich mich selbst und mein Handeln mit den Blicken derer, die früher mein Leben begleitet haben. Erst neulich war das der Fall. Ich habe vor ein paar Wochen zum vorerst letzten Mal aus „Keine Aufstiegsgeschichte“ gelesen.
Im anschließenden Publikumsgespräch meldete sich ein Mann zu Wort, der sagte, er fände Lesung und Inhalte allesamt interessant, aber er wolle mich auf meine letzte Kolumnenfolge ansprechen. Darin habe ich darüber geschrieben, dass ein Kompromiss zwischen Arm und Reich immer zu Lasten der Armen ginge, und es deswegen wichtig sei, kompromisslos gegen Armut zu kämpfen. Kompromisse, so der Mann, seien doch der Kern der Demokratie.
Ich sagte sowas Ähnliches wie: „Wenn wir Armut als politisches Problem begreifen, dann kann ein wirtschaftspolitischer Kompromiss, der die Situation der Armen geringfügig verbessert nicht mein Ziel sein. Kleinformatiger geht es nicht, darum mache ich ja Kunst, um entschlossen für eine Welt zu lobbyieren, in der alle Menschen gleich sind, ohne Wenn und Aber.
Während ich so sprach, dachte ich: Wenn dich jetzt die ehemaligen Arbeitskolleg*innen sehen könnten, die dir vor ein paar Jahren das journalistische Schreiben beigebracht haben, dann würden sich einige von ihnen sicher wundern. Denn mit dieser Konsequenz hatte ich damals noch nicht gesprochen, obwohl ich sie da bereits in mir trug. Ich erlaubte sie mir jedoch in meiner Arbeit nicht.
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Wir alle haben mindestens zwei Wahrheitsregime in uns. Das eine ist unsere eigene Wahrheit, die, die wir uns selbst sagen, oft in Gedanken, manchmal im Badezimmerspiegel oder leise vor sich hin murmelnd, wenn wir uns unbeobachtet wähnen.
Und dann gibt es eine homogenisierte, öffentlichkeitskompatible Version unserer Wahrheit. In solchen Momenten sprechen wir immer noch eigene Gedanken aus, aber es findet ein räumlicher, zeitlicher und sozialer Abgleich statt: In welchem Raum, zu welcher Zeit, umgeben von welchen Personen kann ich wie viel Prozent von meiner eigenen inneren Wahrheit einbringen? Diese Gedanken finden automatisiert unter der Oberfläche unserer Gedanken statt.
Diese verschiedenen Regime der Wahrheit sorgen bei mir – und ich bin mir beinahe sicher, dass es anderen ebenfalls so geht – für ein Gefühl der Inkohärenz. In dem einen Moment über eine Sache im Absoluten zu sprechen und dieselbe Wahrheit im anderen Moment so kompatibel zu verpacken, dass sie nicht stört, sorgt dafür, dass die eigenen Konturen verschwimmen. Indem wir Teile von uns strategisch verbergen müssen, während wir andere Teile überbetonen, sorgen wir für das, was gemeinhin als gesellschaftlicher Kitt verstanden wird. Wir betonen das Verbindende, anstatt das Trennende.
Welche Funktion aber hat dieser gesellschaftliche Kitt, in einer Gesellschaft in der Rassismus, Femizide und Gewalt gegen Wohnungslose auf der Tagesordnung stehen? Wozu dieser Kitt? Warum die Risse verstecken? Warum nicht daran arbeiten, sie nicht nur sichtbar zu machen, sondern sie gar zu vergrößern? Was erwartet uns hinter dem Bruch, der dadurch entsteht?
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Ich werde auf Lesungen und Vorträgen häufig dafür gelobt, dass ich eine Sprache benutze, die nicht akademisch ist. Dich kann man gut verstehen, wird dann gesagt. Dahinter steckt mein Wunsch nach Kohärenz. Nach einem Prozess, in dem ich versucht habe, immer komplexere, mit Fachworten ausgestattete Sätze zu bilden, um allen zu beweisen, wie gebildet ich trotz meiner Schul- und Universitätsabbrüche bin, spüre ich seit Jahren eine große Müdigkeit, wenn es darum geht, dass ich mich verstellen muss.
Wieso sprechen wir in dem einen Moment, sagen wir mit einer Politikerin, anders, als mit alten Freunden von früher? Warum sollte man Politiker*innen und Beamten im Staatsapparat nicht sagen, dass sie mehr Teil des Problems als Teil der Lösung sind, wenn es so ist? Vielleicht weil es unbequem ist, weil es die eigene Sicherheit, die eigenen Lebensentscheidungen bedroht. Das ist verständlich, jedoch sind Sicherheiten in dieser Gesellschaft eh nur eine poröse Illusion. Ich für meinen Teil habe mich entschieden, dass es mir mehr wert ist, wenn ich mich nicht permanent verstellen muss.
Sich zu radikalisieren, das heißt, politische Phänomene nicht getrennt voneinander zu betrachten. Es ist die Aufhebung der Trennung zwischen den Labeln privat und politisch. Es bedeutet, zu verstehen, wie Armut und Reichtum, Diskriminierung und Klassengesellschaft, Klimawandel und Kapitalismus – zusammenhängen, um daraus eine Strategie des Kampfes abzuleiten, die erfolgversprechend ist.
Es hat etwas Heilsames, man selbst zu sein. Und natürlich wird es einem nie ganz gelingen, wir sind keine Roboter. Aber hinter dem zu stehen, was man denkt und fühlt, woran man mit Herz und Gehirn arbeitet, das muss das Ziel sein. Unabhängig von den Räumen, unabhängig davon, zu welcher Zeit. Und wenn die Wahrheit lautet: Die Lösung liegt im Bruch mit diesem System, weil es immer dieselben übervorteilt, während die meisten von uns benachteiligt werden – warum dann noch warten? Warum den Bruch nicht gleich vollziehen?
Ich rufe euch auf: radikalisiert euch! Lasst euren Hass auf Friedrich Merz und die AfD zu einem Hass auf das System werden, das laufend neue rechte Politiker*innen und menschenverachtende Politik produziert. Lasst uns von niemandem mehr etwas von Versöhnung und Kompromiss erzählen lassen, wenn immer die oberen zehn Prozent übervorteilt werden, während drei Millionen Menschen sich in diesem Land nicht täglich eine vollwertige Mahlzeit leisten können.
Jeder Kompromiss der nicht absolute Gleichheit in den Mittelpunkt stellt, ist ein Verrat an den Hungernden, den Wohnungslosen, den Ausgebeuteten, den Verachteten. Prämisse muss sein: Erklär einem armutsbetroffenen Mann, warum ein reicher Mann in diesem Land fünfzehn Jahre mehr Leben in bester Gesundheit zu erwarten hat als er. Erklär ihm, was du dafür tust, damit er seine von der Politik gestohlene Zeit zurückbekommt. Wenn du das nicht kannst, solltest du deinen Aktivismus aufgeben, oder dein Handeln ändern.
Lasst euch nicht Gaslighten. Nicht wir, die wir Kompromisse ablehnen sind das Problem, sondern diejenigen die sie einfordern, aber über unterschiedliche Lebenserwartung, über den verfrühten Tod der Menschen meiner Klasse schweigen.
Und eine Nummer größer: Das System, das Kompromisse als einzige Möglichkeit für Gerechtigkeit verkauft, ist ein noch viel größeres Problem.
Sich zu radikalisieren heißt: Vom Ergebnis her denken. Welche Welt will ich? Wenn ich sage, ich will eine Welt, in der niemand arm ist, in der niemand ausgebeutet, seiner Würde beraubt wird, oder wegen eines “falschen” Aufenthaltsstatus im Abschiebeknast hockt, finde ich die Antwort für den Weg dorthin nicht im Parlamentarismus. Das hat die gewalttätige Umverteilung der Politik des Bundestags die vergangen Jahrzehnte bewiesen.
Das Problem, das viele Linke haben: Wir entscheiden uns immer wieder für Kämpfe, in denen wir glauben, Erfolge zu haben. Dafür müssen wir den Blickwinkel allerdings bewusst einschränken, ansonsten würden wir sehen, wie leise unsere Erfolge und wie ohrenbetäubend laut unser Scheitern dröhnt.
Mit jeder Entscheidung, die im kleinen unserer Sache dient, wähnen wir uns erfolgreich. Vor lauter Suche nach Selbstwirksamkeit haben wir dabei die große Machtachse außer Acht gelassen: Die massive Umverteilung von Vermögen von Unten nach Oben, der Widerspruch zwischen Privateigentum an Produktionsmitteln und Arbeit und den massiven Einfluss der Lobbyisten der Reichen, die – als wäre es Zufall – immer dafür sorgen, dass sich ihre politische Analyse in den Politiken im Bundestag durchsetzt.
Auch bei dem „Zustrombegrenzungsgesetz“ von Friedrich Merz sehen wir: Dass es eine knappe Mehrheit gegen die politisch organisierte Menschenfeindlichkeit gibt, ist kein Gewinn. Wir haben bloß nicht noch eine Niederlage erlitten, dadurch kommen wir aber unseren eigenen Zielen nicht näher.
Sich zu radikalisieren, bedeutet: raus aus der Defensive. Raus aus den Abwehrkämpfen. Rein in den Antagonismus unten gegen Oben. Was nicht bedeutet, dass unser Klassenkampf die Kämpfe gegen Sexismus und Rassismus ausklammert oder auf ein nachrevolutionäres später verschiebt. Im Gegenteil. Ein gemeinsamer Kampf unten gegen Oben geht nur mit allen Menschen von unten, daher müssen verschiedene Formen der Herrschaft, der Gewalt und der Unterdrückung verschiedentlich bekämpft werden. Dafür müssen wir aber an einem Strang ziehen.
Sich zu radikalisieren bedeutet: Worte wie Gefahr, Angst, oder Gefährlichkeit, die die Mehrheit der gesellschaftlichen Linken Jahrzehntelang benutzt hat, um Faschisten zu delegitimieren, sind Worte, die über uns gesagt werden müssen. Für die Reichen, für die Rechten, für die Bürgerlichen müssen wir eine Gefahr darstellen.
Vor uns sollen sie Angst haben, unsere Analysen, unser unversöhnlicher Kampf muss ihre Existenzgrundlage bedrohen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, klar, aber für das Gute Leben für alle führt kein Weg daran vorbei. Jede Zeit hat ihre Anforderungen. Diese Zeit, in der wir Leben und Kämpfen verlangt nach dem unversöhnlichen Bruch mit einem System, dass sich nicht durch ein paar Reformen reparieren lässt.
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Sehr wichtiger Text, Dankeschön! Radikale Änderungen sind nötig und werden immer dringender gebraucht. Vielleicht ist es gut so, wenn (Ex-)Arbeitskollegen einen bei dieser oder jener Aussage erstmal schief ansehen oder verwirrt nachfragen. So bringt man die wirklichen Kernthemen in die Mitte der Gesellschaft und in die kopfe der Menschen. Generell bin ich ein großer Fan davon, als Linker wieder selbst Themen zu setzen und sie nicht von rechts diktieren zu lassen.