Räume des Dazwischen
Wie kann man über psychische Erkrankungen sprechen, ohne in festgefahrenen Kategorien zu denken? In einem Dialog erforschen die Psychologin Paula Kittelmann und der Autor Olivier David die Räume, die
Olivier David: Ich bin auf die Idee für diesen Austausch gekommen, weil sich durch das Sprechen und Schreiben über meine psychische Gesundheit und die sozialen Entstehungsbedingungen psychischer Erkrankungen generell – Armut, Klassengesellschaft, patriarchale und rassistische Gewalt und Diskriminierung; um nur ein paar Mechanismen aufzuzählen – etwas verschoben hat: Auf der einen Seite gibt es meine Arbeit. Ich lese Studien zu Auswirkungen psychischer Erkrankungen, zu Risikofaktoren und so weiter, und ich schreibe darüber, wie die Psyche unter sozialer Gewalt leidet, während ich gleichzeitig bemerke, dass ich im Privaten versuche, einer kontinuierlichen Beschäftigung mit dem Thema aus dem Weg zu gehen.
Nach dem Motto: Dass du anders bist als viele Andere, ist eben so, da kann man nicht viel machen, Augen zu und durch. Es gibt natürlich einen Grund dafür, sich gleichzeitig der Öffentlichkeit preiszugeben und zu sagen, ich bin, wie viele andere auch, Betroffener, und das Thema der psychischen Gesundheit im (vermeintlich) privaten dann aber zu vernachlässigen.
Ich vermute, es liegt daran, dass die professionelle Beschäftigung als Journalist und Autor unheimlich viel Kraft kostet. Zumal ich immer wieder auf meine Betroffenheit reduziert werde, was wiederum verschleiert, dass ich eingeladen werde, über psychische Gesundheit zu sprechen und zu schreiben, nicht weil ich vor allem in erster Linie Betroffener bin, sondern weil es mir möglich ist, meine Betroffenheit so zu artikulieren und adressieren, dass es über meine persönliche Perspektive hinausgeht.
Jenseits des Widerspruch Experte/Betroffener
Es kostet unheimlich viel Kraft, auf Bühnen zu sitzen, auf denen zwischen Experte (meist männlich) und Betroffener unterschieden wird, ganz so, als würde sich das Expertentum beim Themenkomplex psychischer Erkrankungen einzig auf Psycholog*innen und Therapeut*innen beschränken.
Das, was ich mir von unserem Nachdenken verspreche, ist ein Austausch, der viele Aspekte des Lebens, des Leidens und des Arbeitens mit und über psychische Erkrankungen mit einbezieht. Vielleicht gelingt es uns ja, die Trennschärfe zwischen dem professionellen Umgang mit dem Thema und der eigenen Betroffenheit zu überwinden. Denn es kommt mir immer wieder unnatürlich vor, so als würde ich etwas vortäuschen, wenn ich beruflich über Erschöpfung und Angstzustände, über Hoffnungslosigkeit und über die mangelhaften Möglichkeiten der Vorsorge für marginalisierte Menschen spreche, diesen Problemen im Alltag aber kaum einen Platz einräume.
Das hat natürlich auch damit zu tun, das ich versuche mich zu schützen, denn wenn ich eines bemerkt habe, ist es, dass das Schreiben über diese Themen für mich das Gegenteil von Therapie ist: In dem ich wieder und wieder meine seelischen und emotionalen Verwundungen für die Öffentlichkeit hervorkehre, stärke ich auch das Bewusstsein in mir für meine Vulnerabilität. Oder einfacher gesagt: Immer davon zu sprechen, was mich und mein Umfeld unterdrückt, sorgt nicht automatisch dafür, dass das, worunter ich leide, kleiner wird. Oft ist das Gegenteil der Fall: Es erscheint manchmal dadurch sogar unüberwindbarer.
Und da interessieren mich natürlich deine Gedanken gerade zu dieser Trennung zwischen dem, was wir (hilflos) als beruflich und privat betiteln.
Paula Kittelmann: Was mir an erster Stelle beim Lesen deiner Worte aufgefallen ist: das Rationalisieren. Nicht nur aus meiner Rolle als Psychologin heraus, auch aus meiner eigenen Erfahrung damit. Dinge verstehen, durchdenken, hinterfragen, erklären können, doch das macht sie längst nicht kleiner, weg, oder besser, zumindest was unsere Psyche angeht (und auch gesellschaftlich-systemische Mechanismen). Daher ist vielleicht die Trennung zwischen Beruflichem und Privatem, auf die du dich beziehst, vielmehr auch eine Trennung zwischen dem Rationalen und den Emotionen, dem Empfinden. Zu verstehen, warum die Welt so ist wie sie ist, warum wir uns fühlen, wie wir uns fühlen (und sei das nun aufgrund von gesellschaftlichen, kapitalistischen Zwängen und Unterdrückung und/oder der Kindheit) - befähigt uns zumindest in der Theorie ein Stück weit, einzuordnen, uns vielleicht zu distanzieren, und aus der Distanz einen Blick darauf zu werfen, ohne das Gefühl zu haben, hinein gesaugt und überflutet zu werden.
Aber eben nur in der Theorie, weil wir trotzdem emotional reagieren, Ängste, Druck, Traurigkeit, Wut verspüren. Und die Auseinandersetzung damit ist eine andere als das Verstehen. Eine, die meines Erachtens mehr Kraft kostet, die braucht, dass wir uns halten, gehalten werden, die Zeit, Raum und Ruhe braucht. Und gerade daran fehlt es, denke ich, zum einen oft im Privaten, weil so viel fürs Berufliche draufgeht. Zum Anderen ist es viel beängstigender. Zumindest hinsichtlich eigener Betroffenheit von gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen, und auch hinsichtlich dem Verstehen dieser auf Ausbeutung ausgelegten Gesellschaft, fühle ich oft Hilflosigkeit.
Manchmal auch angesichts der in mir wirkenden, intrapsychischen Prozesse, Bindungstraumata zum Beispiel. Emotionales Bearbeiten, “sich im Privaten auseinandersetzen”, birgt, denke ich, viel Potenzial dafür, sich hilflos zu fühlen, emotional erschöpft und ausgebrannt. Und wer hat dafür wirklich Zeit - ist doch unser vermeintlicher Auftrag, zu arbeiten, in die Welt hinauszutragen, aufzuklären. “In der Lage sein, die eigene Betroffenheit zu artikulieren”, das hieße Perspektive von Personen, die sich nicht so artikulieren können, wie es gewünscht wird (zum Beispiel, weil sie die Worte nicht haben, weil der Leidensdruck zu groß, die Symptome zu schwerwiegend sind, oder ihnen schlicht einfach nicht der Raum gegeben wird) werden unsichtbar gemacht.
Neben der Erkrankung muss häufig Betroffenheit performt werden
Ein “guter Betroffener” zu sein - Was heißt das, rational, gefasst, geordnet? Gesellschaftskritik schmackhaft, salonfähig. Psychische Erkrankungen vorzeigbar? Und im Privaten fühlt man sich, als wollte man eigentlich die ganze Welt anzünden, als wollte man, dass Luigi Mangione viele andere Menschen inspiriert, als würde man “verrückt” werden, man will schreien, weinen, hat Panikattacken. Also doch letztendlich auch wieder eine Trennung vom Rationalen und Emotionalen?
Gründe kann das viele haben - als Kind gelernt zu haben, dass niemand da ist, der uns emotional aufnimmt, ein Spiegel ist, uns hält, sodass wir lernen, wir müssen uns erklären, um gehört zu werden in unserem Leid. Oder die Sozialisierung als Frau, nicht wütend sein zu dürfen, ruhig bleiben, nicht hysterisch.
Oder die Sozialisierung als arme Person, die sich doch nur richtig anstellen muss, um zu Geld zu kommen: Das Versprechen und die größte Lüge des Neoliberalismus, jede:r ist seines Glückes Schmied, also sei nicht wütend auf die Reichen, sondern mach was aus dir. Vor allem Wut, insbesondere die Wut der Unterdrückten, wird pathologisiert, soll nicht auf Bühnen, nicht an die Öffentlichkeit. Was also bleibt übrig, als Betroffene:r, um gehört zu werden, als eben nicht emotional zu sein.
Und letztendlich spiegelt sich die Machthierarchie, über die wir so wütend sind, auf Bühnen und Podien wider, so wie du es beschreibst - wer ist Expert:in, wer ist Betroffene? Wo würde ich sitzen, als Psychotherapeutin, die selbst 10 Jahre Therapie hinter sich hat? Würde man mir das eine oder das andere absprechen? Warum, warum nicht? Wie entsteht also die Trennschärfe zwischen professionellem Umgang mit dem Thema und der eigenen Betroffenheit, die du beschreibst? Erwartet es die Gesellschaft von uns, erwarten wir es selbst? Oder beinhaltet die eine Rolle, dass wir uns in der anderen nicht wohl, nicht richtig fühlen, daher können sie nicht oder nur schwer koexistieren?
Ich frage mich, räumst du diesen Problemen, “Erschöpfung und Angstzustände, [...] Hoffnungslosigkeit”, keinen Platz ein, oder fühlst du dich nicht imstande, ihnen anders zu begegnen als im professionellen Setting? Wird dieses Setting damit als Rahmen, in dem du dich genug von der Betroffenheit als das, was du erlebst, distanzieren kannst? Egal, ob es beruflich ein Thema ist oder nicht, wir tendieren als Menschen dazu, diese Dinge vermeiden zu wollen. Aus welchem Grund auch immer, weil wir uns dann als “schwach” erleben, uns abwerten, weil wir uns nicht imstande fühlen den Gefühlen zu begegnen, weil uns die Zeit fehlt, weil wir nicht wissen wie. Wenn wir uns also nicht bewusst immer wieder dazu entscheiden, uns dem zu stellen, ganz privat, ganz ohne die professionelle Attitüde, vulnerabel - dann findet die Auseinandersetzung eben nur auf dieser theoretischen, rationalen Ebene statt.
Bis es uns im Privaten einholt, wir schlecht Luft bekommen, die Angst uns auf der Brust sitzt, wir nicht schlafen können, Sodbrennen bekommen, eine kurze Zündschnur haben, uns nicht konzentrieren können. Doch auch dann werden wir uns in erster Linie - qua unserer Sozialisation, unserer Herangehensweise, unserem theoretischen Wissen - auf dieser Ebene nähern. Und damit fühlt es sich vielleicht immer an, als würde das Private, das Intime, das Emotionale, letztendlich nie richtig Raum bekommen.
Ist es also eine Art Imposter - sprechen über eigene Betroffenheit, aber das Betroffen-Sein nicht zulassen können? Oder ist es viel mehr letztendlich ein Vermeiden von Emotionalen?
OD: Ich kann deinen Fragen viel abgewinnen und wäre beinahe beim Versuch, mich ihnen zu stellen, darauf hereingefallen. Ich wollte im Intellektualisieren – du hast es weiter oben rationalisieren genannt – nach Lösungen suchen. Jetzt denke ich, vielleicht kommt das eine nicht ohne das andere aus. Oder besser: Vielleicht ist das eine auf das andere angewiesen. Falls dem so ist, läge nicht länger ein Widerspruch zwischen Rationalisierung und Emotionen. Was wir unterstellen müssen, zumindest möchte ich das in meinem Fall geltend machen: Der Wunsch nach Heilung nimmt seinen Ursprung in einer Problemanalyse, und sei sie noch so klein.
Wenn ich einen Splitter im Fuß habe, fordert das eine andere Handlungsweise, als wenn ich wie aus dem Nichts tagelang zu weinen beginne. Bevor ich nicht weiß, was mich traurig macht, was mich kleinhält, oder warum ich versuche, bestimmte Gefühle wie Trauer oder Einsamkeit zu vermeiden, kann ich diese Gefühle nicht überwinden. Problematisch wird es sicher, wenn die Proportionen zwischen beiden Möglichkeiten (wenn es denn nur zwei gibt) aus dem Gleichgewicht geraten. Das Schreiben ist eine hervorragende Voraussetzung für eine derartige Dysbalance.
Wo du mir zu Denken gibst, ist – das kann ich nur schwer von mir weisen – die Frage nach der Ersatzhandlung. Ich kenne das von mir, ich ertrage die Welt oft nur, wenn zwischen mir und der Realität ein aufgeklapptes Buch liegt. Oder analog dazu, wenn ich den Laptop öffne, und die Welt, während ich mir einbilde, über Lösungen für irdische Probleme zu brüten, auf Distanz halte. Das, was mir in bestimmten Situationen geholfen hat, das Rationalisieren als Selbstverteidigung gegenüber Personen, die ich als emotional oder irrational empfunden habe, wird nun zur Fallgrube. Oft ist es ja so, wenn man nicht weiterkommt in etwas, so wie ich hier bei dem Widerspruch, meine Probleme in der falschen Disziplin lösen zu wollen, muss man den Bezugsrahmen lösen.
Platt gesagt: Die Antworten und Lösungen liegen meist nicht im Problem selbst begründet, ihre Entstehung findet woanders statt. Armut als soziales Problem wird nicht nur gelöst, in dem man auf “die Armen” schaut, es wird durch eine andere politische Analyse von Welt gelöst und eine damit verbundene Wirtschaftsweise, die Armut nicht nur angleicht, sondern ihre Entstehung überhaupt verhindert. Ich habe neulich irgendwo gelesen, und den Gedanken fand ich sehr spannend, dass Wissen nichts ist, was man besitzen kann. Wissen wird in diesem Gedanken zu Wissen, in dem wir es anwenden. Also nicht die Menge der gelesenen Literatur macht uns schlau, sondern dessen Anwendung. Wie ließe sich das auf unsere Frage übersetzen?
Rationalisierung und Emotionen nicht länger als Widerspruch denken
Das Rationalisieren allein hilft uns nur dabei, ein Problem als solches auszumachen und es zu fixieren, aber lösen können wir es erst, in dem wir es auch emotional bearbeiten. Und hier finde ich, wird deutlich, dass diese Trennung zwischen Rationalem und Emotionalem widersinnig wird. Wenn ich ein Problem nur emotional bearbeite, wie weiß ich dann, dass ich auf dem richtigen Weg bin? Wenn es sich gut anfühlt, etwa wenn der Leidensdruck sinkt? Das kann in die Hose gehen, denn was, wenn ich eine Fixierung habe (vielleicht fällt dir hier ein schlaueres Wort dafür ein), was, wenn der Leidensdruck sinkt, in dem ich mega viel Pudding esse. Dann verschiebe ich ja nur das Problem.
Das ist natürlich absichtlich übertrieben einfach dargestellt, aber es soll zeigen, dass der Dualismus, mit dem wir arbeiten; mit dem wir unsere Probleme erfassen, bereits Teil des Problems ist. Das hat natürlich mit uns beiden herzlich wenig zu tun, wir haben diese Art zu denken beigebracht bekommen. Wo landen wir, wenn die Kategorien nicht mehr Krank/Gesund, Rationalisierung/Emotionalisierung, Betroffene*r/Expert*in heißen? Es muss ja einen Weg geben, gleichzeitig Therapeutin, Betroffene und Mensch mit einem politischen Anliegen in diesem Thema zu sein. Oder in einem anderen Fall, über psychische Gesundheit zu schreiben und nachzudenken, gleichzeitig in Therapie zu sein und für eine Welt zu streiten, in der viele Gründe für psychische Erkrankungen wegfallen. Es wäre einen Versuch wert.
PK: Ich glaube, dass es per se eine gewisse Trennung gibt zwischen dem Rationalen und dem Emotionalen, dass diese Trennung jedoch nicht so scharf ist wie manchmal dargestellt, wie manchmal verlangt. “Sei nicht so hysterisch” oder “du bist immer so emotional” impliziert, dass man nicht mehr klar denken könne. Andererseits scheinen Menschen, die in Konflikten beispielsweise die Logik bemühen, einen “klaren Kopf” zu haben - oder nehmen sie vielmehr den Einfluss ihrer Emotionen nicht wahr, weil sie versucht haben, sich so weit davon zu distanzieren? Wir sehen, und die deutsche Sprache spiegelt wider, was dann passiert: Wir sagen zum Beispiel "Das schlägt mir auf den Magen, das Herz klopft mir bis zum Hals, ich habe Wut im Bauch”.
Hier geht es ja nicht um psychosomatische Psychoedukation, was ich daran aber spannend finde: Es ist eine Illusion, sich einreden zu wollen, man würde unabhängig von den eigenen Emotionen handeln. Egal wer. Ich denke erst, wenn man sich eingesteht, auch die Suche begibt, verstehen möchte, was wann warum welche Gefühle bei einem:einer selbst auslöst, dann kann man sich reflektieren. Und ja, dabei geht das Verstehen mit dem Fühlen Hand in Hand. Wenn ich verstehe, warum ich mich so fühle, wird es manchmal erträglicher. Um das Fühlen kommt man aber nicht herum, und ich glaube, das versuchen viele, du und ich.
Man meint, man versteht, warum und was man fühlt, und damit ist das Problem gelöst, aber das ist es nicht. Manche Gefühle wollen gefühlt und getröstet werden. Andere wiederum setzen unglaubliche Motivation frei - beispielsweise Wut darüber, ungerecht behandelt worden zu sein. Wenn ich als Frau oder arme Person, rassifizierte oder anders marginalisierte Person stetig einen Druck spüre, in Angst lebe, Diskriminierung erfahre, unzufrieden bin, weil ich spüre, ich werde ungleich behandelt oder habe nicht die gleichen Chancen wie andere - dann ziehe ich mich zurück, verbittere, verkrampfe, richte mich ein in meiner Situation und versuche zu überleben, richte meine Wut gegen irgendjemanden in meiner Nähe (Fußball, Familie, andere Kinder, …) - oder aber ich nutze die Energie, die die Erkenntnis über die Ungerechtigkeit der Welt freisetzt, und versuche mich in sozialen Kämpfen, vernetze mich. Auch hier gehen Verstand und Gefühl miteinander, nebeneinander.
Ich verstehe, warum ich mich so fühle, und nutze das Gefühl für mich. Damit möchte ich nicht sagen, dass Gefühle immer produktiv sein müssen, dass ein Leben in einer sozial benachteiligten Situation zum Besseren gewendet werden kann, wenn ich nur verstehe (und fühle). Ich beziehe mich mehr darauf, warum es wichtig ist, die eigene Situation zu verstehen, jedoch nicht der Illusion zu verfallen, das Verstehen allein reiche aus, Veränderung zu bewegen.
So ist es in sozialen Kämpfen und das ist eine Sache, die mich oft an vielen linken Theorie-Kreisen sehr nervt: Da wird viel verstanden, aber wo ist die Energie, die Veränderung anstößt?Auch schreibst du “verstehen, warum ich versuche, bestimmte Gefühle wie Trauer oder Einsamkeit zu überwinden”.
Gefühle als Kommunikationstechnik und Regulationsmechanismus
Letztendlich sind Gefühle Motivatoren, wir wollen entweder aversive Gefühle nicht mehr erleben oder positive Gefühle erneut. Sie sind aber auch Kommunikatoren: wenn ich weine, bekomme ich Trost. Wenn ich Wut zeige, wird meine Grenze vielleicht eher respektiert. Und sie sind Regulationsmechanismen unseres Systems - auf doppelte Weise! System als unser körperliches, individuelles System. Aber auch System als unsere Gesellschaft - wer zu lange unterdrückt wurde, spürt irgendwann die Wut, über Generationen, die irgendwann hoffentlich eine Veränderung des Status quo bewirken kann.
Wieso also streben wir danach, Gefühle zu überwinden, als sie vielmehr zu sehen als Anzeiger, Hinweise darauf, wo in unserem Leben Veränderung nötig ist. Und das passt letztendlich zu dem Punkt bezüglich des Wissens, welches uns erst etwas bringt, wenn wir es anwenden. Es passt zu den linken Theoretiker:innen gleichermaßen wie zu uns als Individuen im Umgang mit unseren persönlichen Situationen.
Vielleicht verstehe ich bspw., dass bei einem Abschied eine lange zurückliegende, unverarbeitete Trauer hochkommt. Weil ich es weiß, kann ich es einordnen - und damit vielleicht leichter aushalten? Oder ich verstehe, warum sich eine scheinbar unverhältnismäßige Wut in meinem täglichen Familienleben entlädt - sie gehört eigentlich an eine andere Stelle, gerichtet gegen Unterdrücker - wie aber das Wissen darum umsetzen? Wie können Arbeiter:innen mit zerschundenen Körpern die Richtung ihrer Wut über die Ungerechtigkeit lenken?
Letztendlich kommt es, glaube ich, wie bei allem auf das Maß an: Du schreibst vom “Verschieben”. Spannenderweise ist das, wie Rationalisieren und Intellektualisieren auch, ein sogenannter Abwehrmechanismus der Psyche. Es gibt zahlreiche, die sich verschieden manifestieren, alle haben aber gemein, dass sie, wie ich finde, sehr kreative Lösungen der Psyche dafür sind, innerliche Spannung zu reduzieren. Manche trinken, rauchen, kiffen ihre Probleme weg, andere schreiben, um sich von innerer Spannung zu befreien, wieder andere bekommen Bauchschmerzen, dissoziieren.
Ich finde, Dissoziation ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie wir alle im Alltag auf psychisch entlastende Mechanismen zurückgreifen - Tagträume, Abdriften, in Gedanken sein. Das sind alles kurze Unterbrechungen in einem vollen und vielleicht fordernden Tag. Und dann verschwimmt die Grenze zwischen krank und gesund - ab wann wird ein solcher Abwehrmechanismus pathologisch? Wann ist Dissoziation ein Symptom von Trauma? Der Unterschied, und den kann man meines Erachtens auch beim Intellektualisieren machen, ist, ob man flexibel ist, ob man innere Spannung auch ohne diese Abwehr regulieren kann, ob man immer zum Alkohol, zur Tablette greift, ob man immer denkt, aber keinen Raum hat, um zu fühlen. (das meinst du vielleicht mit “Fixierung”?)
Und ich glaube, um zu unserem Thema der sozialen Ungleichheit und Unterdrückungsmechanismen zurückzukommen: Menschen, die z.B. in Armut leben, stehen unter einem so massiven Druck, dass gesellschaftlich, was ihr Überleben angeht, dass besonders viel reguliert werden müsste - aber auch irgendwie ohne die Aussicht darauf, dass der Druck sich dann verringern würde, da er ja vor allem von außen verursacht wird. Dieses Erleben von Machtlosigkeit und Ohnmacht, was übrigens meines Erachtens, dem in traumatischen Situationen gleicht, ist so unaushaltbar, dass es entsprechend abgewehrt werden muss.
Dabei liegt vermutlich darin auch ein Funke der Motivation und Wut, die ich zuvor meinte. Wie viel Handlungsspielraum lässt unsere Gesellschaft wirklich für Menschen in unterdrückten Positionen? Was symbolisiert eigentlich die Trennung zwischen Experten und Betroffenen, wenn wir wissen, dass Ärzt:innen, Psycholog:innen, vorrangig weiß, able-bodied, bürgerlich situiert sind, Betroffene von psychischen Erkrankungen häufiger arme, marginalisierte Menschen sind? Was macht es mit einem eigenen Machtlosigkeitsempfinden, wenn ich nicht als Expert:in für mein eigenes Leben und Leiden gesehen werden darf?
Paula Charlotte Kittelmann ist Psychotherapeutin in Ausbildung sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Projekt zu Gewalterfahrungen von psychisch erkrankten Personen im Kontext sozialer und biografischer Faktoren.
Olivier David ist Autor und Kolumnist. Von ihm erschienen: “Keine Aufstiegsgeschichte” (2022) und “Von der namenlosen Menge” (2024).