Schreiben von Unten
Dieser Text ist eine Sammlung loser Gedanken. In unregelmäßigen Abständen frage ich mich: Was bedeutet es, engagierte Literatur zu produzieren?
Man muss:
1. Tagebücher schreiben, und das Wissen für sich selbst etablieren, dass sie eines Tages gedruckt werden könnten.
2. Manifeste schreiben, als wäre man ein berühmter Schriftsteller
3. Jeden Gedanken so behandeln, als wäre er genial. Nicht weil die meisten Gedanken nicht in Wirklichkeit Grütze sind, so wie die Gedanken aller häufig Grütze sind, sondern schlicht, weil die Möglichkeit besteht, dass sie genial sind. Erst nach sorgfältiger Prüfung soll ein Gedanke verworfen werden
4. Man muss sich Museen aneignen und ihre Stille. Man muss sich große Räume aneignen und ihre Weite. Das Gefühl, in großen Räumen klein zu sein, meinetwegen verloren, ist ein Klassengefühl. Es ist die angenommene Limitierung; das Wissen, dass große Räume nicht zu einem gehören.
Nicht, weil man alles haben will, was Reiche haben, weil automatisch gut ist, was Reiche haben. Nein, weil Stille und räumliche Größe dem Denken eine Weite geben. Weil in ihnen schon die Möglichkeit angelegt ist, dass man wortwörtlich über sich hinauswachsen kann, während in kleinen und lauten Räumen der Stress und die psychische Belastung angelegt sind
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5. Wenn es stimmt, dass ein Teil der Formen von Herrschaft die symbolische Herrschaft ist, also eine, die (nicht vermittelt über direkte Gewalt) über uns ausgeübt wird, und wenn es stimmt, dass ein Teil dieser Herrschaft von uns selbst angenommen und gegen uns selbst gerichtet ist, wir uns also zu einem gewissen Teil selbst beherrschen; dann betreiben wir dadurch Selbstausschluss. Zumindest diesen letzten Teil von Herrschaft, der in seiner Größe nicht überschätzt werden sollte, muss ein Schreiben von Unten ablegen, so gut es geht.
6. Warum sollten einem Schreiben von Unten nicht alle Gattungsformen zustehen? Warum sollten wir die in der Literatur üblichen Urteile abwarten (“Du darfst schreiben, Du nicht” – mandatiert durch Buchverträge und öffentliche Wertschätzung) bis wir – immer so viel, wie man uns lässt – ein Stück vom Kuchen abbekommen könnten? Der Platz am Tisch kann nicht erbeten werden, er muss sich genommen werden. Im nächsten Schritt werden wir über die Beschaffenheit des Tisches reden müssen.
Die untere Klasse kann es sich nicht leisten, dass Autor*innen, die in ihrem Sinne schreiben, bestimmte Gattungen der Literatur (Tagebuch/Journal/Essayistik) auslassen, nur weil diese Gattungen wichtigeren, häufig bourgeoisen Schreibenden vorbehalten sind. Wir alle können uns die Tagebücher von Simone de Beauvoir oder Thomas Mann durchlesen. Woran es aber mangelt, sind die Analysen, die Träume und Gedanken von Erwerbslosen, von Tagelöhnern und Landstreicherinnen von Bankräubern und Ausgebeuteten, von Menschen, die schreiben und unter der Klassengesellschaft leiden, die sich gegen sie richtet.
7. Wofür schreiben: Schreiben und Kunst als Rettung des Selbst – oder Schreiben und Kunst als Rettung der Welt? Zu häufig reicht es Autor*innen bloß zu suggerieren, man verhandle soziale Welt, um politisch rezipiert zu werden. Diese Prosa oder Essayistik ist häufig eine Prosa oder Essayistik mit politischer Patina, in der das bürgerliche Versprechen eingelöst wird, sich das Gewissen zu reinigen. Einerseits sagt es: Obacht, hier geht es um etwas, das größer ist als die individuelle Geschichte einer Protagonistin! Andererseits muss daraus niemals eine Konsequenz folgen, alles bleibt angedeutet, nichts wird ausbuchstabiert, dabei sollte doch die Kunst ein Raum der Utopien sein, und wenn wir sie nicht buchstabieren, wer tut es dann – und zu welchen Bedingungen?
Solche Bücher können vom großen Staunen und Geraune der Welt der Wohlhabenden und Reichen handeln und gleichzeitig behaupten: Dieses Buch will eine andere Welt. Aber diese andere Welt, wie sieht sie aus? Sie verspricht Chancengerechtigkeit, aber niemals das gute Leben für alle, das wäre ja, igitt, Agitprop-Literatur. Die Rettung des Selbst allein erfüllt niemals die Kriterien für politisch engagierte Literatur. Gleichzeitig muss das Eine (Kunst als Rettung des Selbst) das Andere (Kunst als Rettung der Welt) nicht ausschließen. Warum sollte Literatur von Unten nicht beides bereithalten: Einen Raum, in dem durch das Schreiben Zukunftsvisionen für die eigene Klasse entstehen, sowie einen Raum für eine eigene Zukunftsvision als Schreibender seiner Klasse?
8. Die Realität ist aber eine andere. Was man zu häufig beobachten muss: Autor*innen der Mitte schreiben Bücher für die Mitte, bekommen Preise und Anerkennung der Mitte und die Gewalt und das zutiefst reaktionäre, das von der Prosa (selbst der Prosa, die sich liberal oder linksliberal positioniert) wie von dem Ort, von dem aus sie die Welt beschreibt, ausgeht, wird - übrigens in bester Agitprop-Manier - fortgeschrieben. Politische Kunst, die ein gutes Leben für alle will, muss mit dieser Idee zu schreiben brechen lernen. Die Lösung liegt in einem Schreiben, das nicht nur für eine objektiv bessere Welt einsteht, sondern das die eigenen unterdrückten Leute auch adressiert. In einem Schreiben, das sich nach oben richtet, liegt immer eine Bitte, währenddessen sind viele, die unten stehen, es leid zu bitten.
Unser Recht liegt nicht darin, nach Oben zu bitten, unser Anspruch politische Literatur zu produzieren wird daran gemessen werden, ob wir unseren Blick und unser Schreiben korrumpieren lassen. Wenn sich also herausstellen sollte, dass der Tisch zu klein ist, sodass nie alle Stimmen in den Kanon der Literatur eingemeindet werden können, werden wir diesen Tisch infrage stellen, also angreifen müssen.
9. Viele der genannten Mechanismen liegen außerhalb der Logiken der Literatur. Es besteht die Gefahr, dass, wer sich zu stark auf einzelne Akteure des Literaturbetriebs einschießt, die Strukturen, die zu einer bürgerlichen Hegemonie führen, außen vor lässt. Letztlich verlangt die Gewalt bürgerlicher Kultur nach einer Literatur die ihre Welt zu leben als die richtige verankert und andere Arten zu leben angreift. Unsere Angriffe gegen das, was uns angreift, müssen sich daher gegen Systeme richten – und dürfen trotzdem nicht von denen schweigen, die sie bedienen. Andernfalls würde es bedeuten, dass es keine andere Möglichkeit gäbe, sich solidarisch, sich nicht ausbeuterisch zu verhalten. Es gibt andere Verhaltensweisen. Man kann mit den Logiken der Preisvergabe, mit den Logiken von Aufmerksamkeit und Erfolg, mit den Logiken von Vetternwirtschaft und Konkurrenz im Literaturbetrieb brechen. Man kann brechen mit der Kumpelei und der Mauschelei von der immer wieder nur dieselben profitieren. Diese anderen, besseren Arten des Umgangs, diese anderen, besseren Handlungsweisen müssen offengelegt werden.
10. Eine Literatur des Widerspruchs zu produzieren, eine, die die Wut und Verlassenheit der Machtlosen in den Vordergrund stellt, erfordert Mut und Kraft. Literatur, die nicht mit hohen persönlichen Kosten (oder einem hohen Maß eigener Beteiligung) verbunden ist, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit wirkungslos. Denn würde sich unsere Welt einfach in eine gute Welt umschaffen lassen, wäre das längst getan.
Gleichzeitig darf das Aufbringen von Kraft kein alleiniger Gradmesser sein. Wenn ich immer wieder schreibend gegen die Wand laufe, verbrauche ich viel Kraft und komme trotzdem nicht voran. Es braucht also inhaltliche Begriffe, anhand derer wir den richtigen Weg für eine Literatur der Vielen bestimmen.
11. Hier wird die Frage wichtig, in welchem Verhältnis das Bedienen institutioneller Logiken (also der literarische Marsch durch die Institutionen) und dem Versuch, seinen eigenen Leuten die Treue zu halten stehen. Um mal aus dem Theoretischen herauszukommen: Beim Schreiben vom Essayband „Von der namenlosen Menge“ gab es in der Pitchrunde, also in dem Moment, in dem das Buch das erste Mal Verlagen angeboten wurde, Anreize vonseiten einzelner Verlage, das Projekt umzuformatieren. Die Faustregel war dabei: Reflexive Passagen sollten reduziert werden, denn wen interessiert, anhand welcher Denkschulen und Schriftsteller*innen ich mein Denken ins Verhältnis setze? Mehr persönlich erzählen, weniger Analyse, das war der an mich herangetragene Wunsch. Das Verhältnis vom persönlichen Erzählen zum Erzählen der Einbettung des Ichs in die soziale Welt ist aber das für mich Interessante.
Es ist (fast nur) aus einer voyeuristischen Perspektive spannend, ein Ich zu formulieren, das sich zu seiner Umwelt nicht kritisch ins Verhältnis setzt. In einem literarischen Ich ist für Leser*innen die Möglichkeit angelegt zu denken: Ich auch. Mir ging es auch so. Das ist nicht nichts. Aber das Ich aus dem Anekdotischen herausgelöst zu betrachten und es in den Versuch einer Analyse von Herrschaft und Ausbeutung einzubetten, hält unendlich viel mehr politisierendes Potenzial bereit. Davon etwas wegnehmen war und ist für mich nicht möglich, zumindest nicht in dem Projekt.
12. All diese Punkte sind erste Denkansätze, die erschöpfend diskutiert und weiter gedacht werden müssen. Sie sind der Zwischenstand eines Denkprozesses. Ein Gesprächsangebot, nicht zuletzt mit mir selbst. In den Welten der Literaturhäuser finde ich bisher nur wenig statt – und so sehr es mich manchmal trifft, so sehr bin ich dankbar für die Lesungen und Panels, auf denen ich sitze. Denn eigentlich bin ich schon dort, wo ich sein will: Bei einer Literatur, die keine Trennung zu gesellschaftlichen und politischen Akteur*innen sucht, in dem sie unter sich bleibt.
Dafür bei einer Literatur, die mit politischen Gruppen in Austausch steht, die an Hochschulen und in benachteiligten Quartieren immer wieder mit den großen Fragen in Berührung kommt: mit Armut, Gewalt, Gefängnis, mit Not, Krankheit und Unterdrückung. Fürs Erste ist das ein Zwischenstand in meinem Denken: Bei sich zu bleiben, auch wenn das heißt, aus der Literatur ausgeschlossen zu werden. Lieber keine Literatur als die Falsche, um der Liebe der sozial engagierten Literatur wegen.
Bis nächsten Monat an dieser Stelle,
Olivier
Warum stehen hier denn nicht schon 218 Kommentare?! Meine Güte - ENDLICH!
Die grossen, die wichtigen, die einzigen Fragen. Die Fragen, an denen sich alles scheidet, die ein Gradmesser sind, Lackmuspapier für die Identifikation von Relevanz.