Übers Jammern
Das Bürgertum hat einen ganzen Koffer voller Abwertungsmechanismen zur Hand, wenn die Leute von Unten ihre Stimme erheben – gucken wir ihn uns an!
Liebe Lesenden,
auf diese Folge meiner Kolumne „David gegen Goliath“ freue ich mich schon lange, denn genaugenommen ist es diesmal gar keine Kolumne, sondern ein klassischer, schnöder Newsletter; herrlich!
In den vergangenen Monaten habe ich allerlei Extreme kennengelernt, von denen ich hier ein bisschen erzählen möchte. Ich war das erste Mal für drei Monate in Frankreich, mit dem Wunsch, die Sprache besser zu lernen und nicht zuletzt, um mir zu zeigen, dass die Welt groß und weit sein kann. In der Realität sah das natürlich ganz anders aus, aber so ist es ja immer. Eine starke Verinnerlichung, scheitern an der Sprache, scheitern an dem Versuch, regelmäßig zur Sprachschule zu gehen, bei der ich mich für einen Kurs angemeldet habe, Frustration über das eigene Scheitern. Zu versuchen, neue Wege einzuschlagen, das hält immer auch die Möglichkeit bereit, sich selbst seines Platzes zu besinnen.
Die Stimme in meinem Kopf, die mir sagt, Olivier, das ist alles eine Nummer zu groß für dich – die Sprache zu fremd, die Kultur zu fern, die Nöte und kleinen Rücksichtlosigkeiten der Menschen im Alltag zu offenkundig – war mein ständiger Begleiter. Und weil ich den Drang habe, mir für alles eine Erklärung zu suchen, interessiere ich mich für die Funktion der Stimme in meinem Kopf, die manchmal wie aus dem Mund eines Freundes zu mir spricht, der mich vor Gefahren warnen will, und sich andernfalls anhört wie eine Parsel sprechende Schlange, die mich aufhetzt.
Jammern als ein politisches Gefühl
Also die Funktion. Bei der Lesung gestern im Kreisky-Forum in Wien sagte während des Publikumsgespräches ein Zuhörer, dass ich jammern würde. Ich hatte es so verstanden, dass es auf die Textpassagen bezogen war, die ich zuvor vorgelesen hatte. Und da sind wir bei der Funktion.
Wenn Menschen, die von Unten kommen, oder für das gesellschaftliche Unten schreiben, ihre Stimme erheben, um Zeit- und Milieudiagnose zu betreiben, so wie ich es in meinem Essayband „Von der namenlosen Menge“ versuche, dann kommt bei vielen Leuten aus der bürgerlichen Mitte genau das an: jetzt Jammern sie wieder.
Ich habe dem Mann geantwortet, dass ich sehr dankbar über die Formulierung bin, weil man anhand davon ganz gut den Blick der Mehrheitsgesellschaft erkennen kann. Sobald Menschen, die Arm sind, oder von Armut schreiben, bloß sagen, was ist, stören sie schon. Das hat mit dem Wortbeitrag oder mit dem, was ich gestern gelesen haben weniger zu tun, als mit einem weit verbreiteten Phänomen, dass sich wie folgt beschreiben lässt: Wenn wir bestimmte Akteure sprechen hören, hören wir ihnen dann wirklich und vorurteilsfrei zu – oder rufen wir bloß unser Wissen ab, was wir glauben, von ihnen zu besitzen?
Das ist natürlich eine suggestiv-Frage, bereits der Blick in die Kommentarspalten von Texten, in denen Armutsaktivisten zu Wort kommen, zeigt: Sobald jemand von sozialer Ungleichheit spricht, verordnet die Kopf-eigene Verwaltungsabteilung einen Einreisestopp für Gedanken, die von Außen kommen. Die Abteilung schickt den inneren Archivar ins Archiv des eigenen Wissens- oder Vorurteilschatzes, Moment, murmelt der dann, A wie Armut, was haben wir da, ah ja, sieh mal einer An – und schon spuckt die Datenbank das eigene Vorurteilsbingo aus: Arme jammern, Arme sind faul, selbst schuld und so weiter und so fort.
Die Funktion davon ist es, die Zustände und die Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat, zu erhalten. Indem man sich, was bestimmte Themen angeht, lieber mit sich selbst unterhält (also die eigenen Vorurteile abruft), anstatt zuzuhören, sichert man Zustände ab, von denen man selbst profitiert. Der Mann im Publikum hat eine Notwendigkeit, Armutsbetroffene abzuwerten, in dem er meine Analyse und mein Schreiben subjektiviert und mit moralischen Werturteilen belegt, denn, mit Bourdieu gesprochen, benötigen ungleiche Gesellschaften Erklärungen, die die Ungleichheit rechtfertigen. Insofern ist es gar nichts individuelles, es geht weniger um den Mann, als darum, was seine soziale Position ihm für Handlungsweisen vorgibt.
Fokusverschiebung als Entlastung
Auf gut Deutsch: Ah, der jammert, da beschwert sich einer, dem höre ich nicht zu. Leute, die jammern, werden nicht als Handlungsmächtig wahrgenommen, nicht als Menschen, die objektiv das Recht haben, sich zu beklagen und gehört zu werden. In dem man das Gejammer als Befindlichkeit umetikettiert, entbindet man sich selbst der Pflicht, sich zu dem Inhalt des “gejammers” positionieren zu müssen. So wird eine Aussage wie „der jammert“ zu einem Werturteil, dessen Funktion Verantwortungsabgabe ist: Um den muss ich mich nicht mehr kümmern, der wird schon mitverantwortlich für seine Not sein, so in etwa der Gedanke, der hinter dem Phänomen stecken könnte. Frauen und Queers, sowie Menschen, die von Rassismus betroffen sind, kennen das Phänomen. Es wird der oder diejenige blamiert, die sich über die Zustände beschwert, anstatt sich das gesellschaftliche Klima oder die Politik anzuschauen und sich zu befragen, wie sie Einfluss auf die Not eines jeden Leidenden nimmt.
Nebenher gesagt, selbst wenn der Mann im Publikum recht hätte, und ich gejammert hätte: Und wenn schon? Das Jammern wird zu Unrecht als etwas Schlechtes wahrgenommen, zunächst einmal sagt es: Hier leidet jemand. Aufgabe unserer Gesellschaft muss es sein, das nicht abzuwerten, sondern sich zwei Fragen zu stellen: Wie kann ich helfen und: Was hat das Jammern mit gesellschaftlichen Bedingungen zu tun. Häufig würde die Antwort darauf lauten: Mehr, als wir es glauben wollen. Insofern geht es auch um die Rehabilitierung von Gefühlen wie Neid oder Eifersucht, auch das jammern muss seiner Vorurteile entledigt werden, denn all diese Gefühle und Handlungsweisen artikulieren häufig erstmal eine Ungleichverteilung von Gütern, Möglichkeiten, Zugängen und Freiheiten.
Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich in einer Wiener Bäckerei. Gerade habe ich das luxuriöse Hotel im 1. Bezirk verlassen, in dem mich die Veranstalter der Lesung untergebracht haben. Ich trete aus der Tür, ein Kutscher reitet mit seinen Pferden an mir vorbei. Ich sehe teure Autos, große Boutiquen mit Wächtern an der Tür, die Frauen tragen Pelz, die Männer Anzug. Ich bin von extremem Luxus umgeben. Ein Luxus, an dem ich partiell teilhaben darf, der aber nicht meiner ist. Ich bin in einer Welt, die originär nicht meine ist, ich weiß es, nicht zuletzt, wenn ich einmal jährlich meinen Rentenbescheid zugeschickt bekomme; nicht zuletzt wegen der Ohnmacht, die beinahe täglich vorbeischaut, nicht allein wegen des Gefühls, dass ich zwischendurch glaube, dass ich gar nicht genug Kraft habe, meinen Alltag zu meistern.
In den vergangenen Tagen, habe ich, innerhalb von 30 Stunden vor mehr als hundert Schülern gelesen, am selben Abend habe ich das erste Mal auf einem Schiff auf der Nordsee gelesen, fünfzehn Stunden später saß ich im Flugzeug von Hamburg nach Wien, um kurz darauf schon wieder auf einer Bühne mit dem Autor Robert Misik zu lesen. Das ist gerade mein Leben, es ist ein unwahrscheinliches, aber ein gutes Leben. Oder sagen wir lieber: Ein Abschnitt. Manchmal glaube ich, dass sich meine soziale Mobilität darauf beschränkt, dass ich zwischendurch viel unterwegs sein darf.
Auch wenn ich – wie eine Lesereihe in Köln titelt, bei der ich im Oktober zu Gast bin – viel zwischen den Klassen unterwegs bin, gilt meine Sympathie, mein Schreiben und nachdenken doch sehr parteiisch und einseitig denen, die ich meine Leute nenne: den Entrechteten, den Unterdrückten, den Ausgegrenzten. Und damit bin ich nicht allein. Als Autor kommt es einem manchmal so vor als schreibe und spreche man fortwährend allein, als sei nichts miteinander verbunden. Es ist mitunter ein einsamer Beruf, umso wichtiger ist es, eine politische Loyalität zur eigenen Klasse zu erhalten und immer wieder aufs neue nach Gemeinsamkeiten und Möglichkeiten zu suchen, soziale Kämpfe zu unterstützen.
Termine, Termine, Termine
Gemeinsam mit dem Autor Mesut Bayraktar, moderiert von Dîlan Sina Balhan, lese ich am 13.10. (also schon am nächsten Sonntag!) auf der Plattformbühne im Ernst Deutsch Theater. Es ist meine erste Lesung in Hamburg seit etwa zwei jahren und ich freue mich darauf wie ein kleiner Junge! Mesut bringt seinen gerade erschienenen Kurzgeschichtenband „Die Lage“ mit, ich lese aus dem im Mai erschienenen Essayband. Nur folgerichtig, dass die Veranstaltung mit den Worten: „Die Lage der namenlosen Menge“ übertitelt ist.
Es wird ein toller Abend werden, einer, an dem es nicht um die bürgerliche Mitte geht, an dem Abend werden die Leben Armuts- und Rassismusbetroffener im Vordergrund stehen: Ihre Kämpfe um Würde, ihre Kämpfe gegen Unterdrückung, ihr Leiden, ihr Lieben – ich freue mich so auf den Abend, denn es ist so notwendig, miteinander ins Gespräch zu kommen und gemeinsam darüber zu brüten, wie eine Welt aussehen kann, in der die rechte und Freiheiten aller Menschen möglichst gleich verteilt sind.
Unter diesem Link könnt ihr für die Veranstaltung Karten kaufen:
Hier ein paar Lesungen und Podien, wo ihr mich im Oktober antreffen könnt:
7.10. Hamburg-Eimsbüttel: Lesung aus „Von der namenlosen Menge“ bei Die Linke, Schoppstraße 1, Beginn: 18:30 Uhr
11.10. Dortmung: Lesung aus „Von der namenlosen Menge“ mit dem Fritz Hüser Institut in der Buchhandlung Transfer, An der schlanken Mathilde 3, Beginn: 20 Uhr
13.10. Hamburg, Ernst Deutsch Theater, Plattform Bühne: Doppellesung mit Mesut Bayraktar „Die Lage der namenlosen Menge“, moderiert von Dîlan Sina Balhan, Friedrich-Schütter-Platz 1, Beginn: 19:30
17.10. Heidelberg: Lesung aus „Von der namenlosen Menge“ im Rahmen der Armutswoche, IG Metall Heidelberg - Sitzungssaal, Friedrich-Ebert-Anlage 24, Beginn: 19: Uhr
18.10. Freiburg: Lesung aus „Keine Aufstiegsgeschichte im Rahmen der Weingarten-Gespräche 2024/2025, Adolf-Reichwein-Bildungshaus, Bugginger Str. 83, Beginn: 19 Uhr
20.10. Vortrag „Kulturelle Teilhabe als Statussymbol?“ Tutzing, Fachtagung „Klassismus & Teilhabe im Kulturbetrieb”
21.10. Köln, Lesung aus „Von der namenlosen Menge“ bei der Lesereihe „Zwischen den Klassen”, gemeinsam mit Lea Sauer und Dinçer Güçyeter, moderiert von Änne Seidel, Kunsthafen, Beginn: 19:00
22.10. Marburg, Lesung aus „Von der namenlosen Menge“, Uni Marburg
Bis bald, in echt oder digital,
euer Olivier